Photo: Piotr Cierkosz | Unsplash
Guest Author: Alexandra Sowinska
Alexandra Sowinska studied European Studies at the University of Osnabrück. From the third semester onwards, she concetrated on the domestic political situation in Poland, and was particularly interested in the reforms oft he rule of law and the media system. After that, she continues with the Master’s programme in Eastern European Studies in Hamburg, which offerds her an interdisciplinary view of Poland.
Einleitung
Die Europäische Union vertritt in ihrer Verfassung eine Vielzahl von Grundwerten, die nicht nur erstrebenswerte Ideale symbolisieren sollen, sondern sich auch in ihrer praktischen Umsetzung widerspiegeln müssen. Somit verpflichten sich im europäischen Beitrittsprozess alle Staaten, die im Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) formulierten Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu übernehmen und sich in der Praxis an diese Bedingungen anzupassen. Jedoch stellen demokratische Rückschritte in Verbindung mit Prozessen des Abbaus der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU keine Anomalie mehr dar. Um gegen letztere rückschrittliche Tendenzen zu intervenieren, leiteten die Europaabgeordneten das erste Mal in der Historie der EU das Verfahren nach Artikel 7 (EUV) sowohl gegen Ungarn, als auch gegen Polen ein. Bei diesem Verfahren handelt es sich um die so genannte Suspensionsklausel, die die Möglichkeit vorsieht, bestimmte Rechte aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufzuheben, z. B. die Aussetzung des Stimmrechts im Rat der EU, wenn ein Staat die Grundsätze der EU kontinuierlich missachtet und verletzt. Obwohl das Verfahren nach Art. 7 bereits 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführt wurde, kam es erst 2017 gegenüber Polenerstmals zur Anwendung. Der Zeitraum vor dem tatsächlichen Gebrauch des Instruments war ausschließlich von Diskussionen über die Missachtung der Grundwerte der EU durch Staaten geprägt. Infolgedessen hat die tatsächliche Einleitung des Mechanismus nicht nur in den Medien, sondern auch im akademischen Diskurs ein starkes Echo hervorgerufen. Nach jahrelangen, von Stagnation geprägten Verfahren hat sich jedoch gezeigt, dass sich das Instrument der EU aufgrund verschiedener Hürden als unwirksame Maßnahme gegen die Erosion europäischer Werte erwiesen hat.[i] Folglich hat die EU eine allgemeine Konditionalitätsverordnung zum Schutz des EU-Haushalts erlassen, in der Hoffnung, so wirksamer gegen den allgegenwärtigen Abbau der Rechtsstaatlichkeit vorgehen zu können. Die Festlegung spezifischer Konditionalitäten stellt hierbei kein Novum in der europäischen Staatskunst dar. Frühere Konditionalitätsmechanismen, wie die vom Europäischen Rat formulierten Kopenhagener Kriterien, wurden bereits 1993 angewandt.[ii]
Die Divergenz zwischen den EU-Verträgen, die fundamentale Werte repräsentieren und der Mangel an spezifischen Instrumenten, um diese zu verteidigen, bleibt weiterhin als ein gegenwärtiges Problem der Europäischen Union bestehen.
Wie im Folgenden anhand des Disputs zwischen der EU und der ehemaligen rechtspopulistischen Regierung Polens deutlich werden wird, lässt sich feststellen, dass die Europäische Union trotz der relativ neuen Verordnung weiterhin in ihrem wertebasierten Dilemma gefangen ist. Einerseits repräsentiert sie Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, andererseits kann Artikel 2, der den Ausgangspunkt für den Rückgriff auf den Konditionalitätsmechanismus bildet, nicht garantieren, dass konkrete Maßnahmen die Grundwerte der EU tatsächlich schützen. Die Bedeutung des letzteren sollte nicht unterschätzt werden, da die mangelnde Verteidigung der Werte der EU auch ihre Kredibilität als glaubwürdiger Akteur auf der internationalen Bühne mindert. Die Divergenz zwischen den EU-Verträgen, die fundamentale Werte repräsentieren und der Mangel an spezifischen Instrumenten, um diese zu verteidigen, bleibt weiterhin als ein gegenwärtiges Problem der Europäischen Union bestehen.
Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit
In erster Linie lohnt es sich, den integrierten Begriff „Konditionalität“ näher zu betrachten, um die Bedeutung und Wirkung der Verordnung konkretisieren zu können. Etymologisch stammt der Begriff aus dem Lateinischen (condiciōnālis/condicio) und bedeutet übersetzt „Bedingung“ oder „auf Bedingungen beruhend“. Im politischen Kontext wird Konditionalität mit einer Belohnung verknüpft und kann als eine Art des Austausches betrachtet werden. Für die Erfüllung bestimmter Bedingungen erhalten Staaten eine Form der Belohnung. Werden hingegen bestimmte Bedingungen von den Staaten nicht erfüllt, kommt es zu einer Zurückhaltung der Belohnung. Im Rahmen der allgemeinen Konditionalitätsverordnung zum Schutz des EU-Haushalts, die seit dem 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist, wurde die Einhaltung von rechtsstaatlichen Standards als Bedingung für die Auszahlung von Geldern aus dem EU-Haushalt geknüpft. So heißt es in der Verordnung, sollten bestimmte Verstöße von Staaten gegen Rechtsstaatlichkeit die finanziellen Interessen der EU beeinträchtigen, dann werden nach der Bewertung der Europäischen Kommission bestimmte Maßnahmen eingeleitet, wie beispielsweise die Aussetzung von Zahlungen oder Reduzierung von Mitteln.[iii] Ferner wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Maßnahmen um keine Sanktionsmechanismen gegenüber Staaten handelt. In diesem Zusammenhang hat der Juristische Dienst des Rates in einem Gutachten zur Konditionalitätsverordnung relevante Aspekte ausgearbeitet, die darauf hinweisen sollen, dass sich die Konditionalitätsverordnung im Gegensatz zum Verfahren nach Artikel 7 (EUV), das klar definierte Sanktionen enthält, wie die Aussetzung von Stimmrechten, in ihrer Regelstruktur und Zielverfolgung deutlich voneinander unterscheiden.[iv] Ziel der Europäischen Union ist es, mit der Konditionalitätsverordnung zu einem kohärenteren und damit strengeren Vorgehen zu erlangen, da das Instrument aufgrund der transparenten Koordinierungsmodalitäten wirksamer und schneller in der Anwendung erscheint. Das Verfahren nach Artikel 7 (EUV) ist durch eine Reihe von Abstimmungen zwischen dem Rat der EU, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission gekennzeichnet und erfordert einen breiten Konsens.[v] Gleichzeitig sind die Sanktionen nicht direkt auf die nationale Politik des Staates ausgerichtet. Im Gegensatz zum Verfahren nach Art. 7 kann die EU mit der neueren Verordnung auf der Grundlage des Kommissionsvorschlags direkt finanzielle Maßnahmen verhängen, die auch konkrete Auswirkungen auf die nationale Regierung haben. In Anbetracht der Tatsache, dass es oft die Nettoempfängerstaaten sind, die die Werte der EU missachten, hat die Aussetzung der Mittel aus den EU-Töpfen weitreichende Folgen für ihre wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen, denn gerade diese Staaten sind von EU-Hilfen abhängig.
Europas Ohnmacht gegen die Erosion europäischer Werte am Beispiel Polen unter der PiS-Regierung 2015-2023
Betrachtet man die politische Situation in Polen zwischen 2015 und 2023, wird deutlich, dass Verstöße gegen die Grundprinzipien der EU ihre Handlungsfähigkeit und damit ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen werden. Bereits vor dem Inkrafttreten der Verordnung hat sich herausgestellt, dass die ehemalige polnische Regierung ablehnend gegenüber der Bindung vorgeschriebener Konditionen an Rechtsstaatsprinzipien stand. Justizminister Zbigniew Ziobro meldete Zweifel an der Rechtskonformität der Verordnung und beantragte, die Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit mit EU-Mitteln für verfassungswidrig zu erklären. Nachdem die von Polen erhobene Nichtigkeitsklage von dem Gerichtshof der Europäischen Union in vollem Umfang abgewiesen wurde, wird insbesondere nach diesem Urteil deutlich, dass Polens argumentative Reaktion bereits ausschließlich auf einer Ablehnungsspanne zirkulierte.[vi] Infolgedessen entstand ein antagonistisches Bild der EU mit der Behauptung, dass die EU Gewalt gegen Polen ausübe und die Freiheit in einer Weise einschränke, die mit dem Recht unvereinbar sei. Folglich lässt sich festhalten, dass Polen ein eher geringes Vertrauen in die EU-Institutionen hegte, was sich sowohl nach innen als auch nach außen auf das Bild der EU auswirkt. Wenn sich die eigenen Mitglieder nicht mit den Werten der EU identifizieren können und ihr mit Vorwürfen gegenübertreten, führt dies zu einer Diffamierung der EU und einer massiven Schwächung ihrer Position als Global Player. Die letztgenannte Reaktion spiegelte sich auch in der praktischen Reaktion des Landes wider, die sich anhand der Auszahlung bzw. der Verweigerung der Auszahlung der europäischen Mittel zur Bekämpfung der Coronakrise klar analysieren lässt.
Die unter der Bezeichnung „NextGenerationEU“ in den EU-Haushalt aufgenommenen Mittel für den Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise waren an bestimmte Bedingungen geknüpft, die auf die einzelnen Mitgliedstaaten zugeschnitten waren. Nach der Verabschiedung des polnischen Konjunkturprogramms war vorgesehen, dass das Land drei spezifische Bedingungen erfüllen muss, um mit einem derartigen positiven Anreiz belohnt zu werden. Einerseits sollte die umstrittene Disziplinarkammer abgeschafft werden, rechtswidrig entlassene Richter*innen sollten die Möglichkeit erhalten, ihren Fall von einem unabhängigen Gericht erneut prüfen zu lassen, und das Disziplinarsystem für Richter*innen unterlag einer Reformierung. Die vorgesehenen Konditionalitäten erforderten insofern erhebliche formale und institutionelle Veränderungen im polnischen Justizwesen.
Mit der Verabschiedung des Präsidialgesetzes über den Obersten Gerichtshof Mitte Juli 2022 könnte argumentiert werden, dass der polnische Staat eine der drei vorgesehenen Bedingungen erfolgreich umgesetzt hat, indem er die Disziplinarkammer durch die Einrichtung einer neuen Kammer unter der Bezeichnung „Kammer für berufliche Verantwortung“ abschaffte. Allerdings ist einzuwenden, dass es sich hierbei um eine formale Änderung handelte, die im erheblichen Maße von den ursprünglichen Forderungen der EU abwich. Die Regierung unter Morawiecki versuchte mit diesen formalen und institutionellen Modifikationen die allgemein gültigen Bedingungen scheinbar zu erfüllen, umging sie aber offensichtlich im Detail. In einem Artikel eines investigativen Journals weist Sitnicka darauf hin, dass die neue Kammer so konstituiert wurde, dass die Neo-Richter*innen auch in der neuen Kammer tätig sein werden. Berechnungen zur Folge würde es auch im Jahr 2023 ausreichend Neo-Richter*innen in dieser Kammer geben, die ihren eigenen Kandidaten für das Präsidentenamt aufstellen lassen könnten. Insbesondere ist anzumerken, dass die neu geschaffene Kammer kein unparteiisches und unabhängiges Organ darstellt, was sich aus der Prozedur der Ernennung der Richter*innen herausstellt. Die Schlussentscheidung liegt beim Präsidenten und PiS-Sympathisanten Andrzej Duda, welche 11 der 33 Richter*innen für eine fünfjährige Amtszeit in die Kammer berufen werden.[vii] Als besonders problematisch erwies sich die Tatsache, dass viele der auszuwählenden Richter*innen auch Mitglieder der Disziplinarkammer sein würden. Gleichzeitig erlaubt das neu beschlossene Präsidialgesetz einen enormen Machteinfluss auf die Justiz des Landes, was nicht weniger problematisch erscheint. Diese Art der Scheinumsetzung wurde allerdings von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, mit der Begründung abgewiesen, dass fortan keine Garantie der Rechte der Richter*innen bestehe.[viii] An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich durch die Abweisung der EU bezüglich der von Polen unternommenen Änderungen, die argumentative Rhetorik in die Richtung einer ganzheitlichen Ausflucht bewegte. Stellvertretender Sejmmarschall Sebastian Kaleta argumentierte, dass es der EU im Zusammenhang mit der Konditionalitätsverordnung nicht um den Wert der Rechtsstaatlichkeit gehe und dass dem Staat aufgrund unzutreffender Anschuldigungen EU-Gelder vorenthalten werden. Festzustellen ist, dass die polnische Regierung die Konditionalitäsverordnung als unzulänglich interpretierte, weil sie Staaten in die Rolle eines Bittenden stellt.[ix] Die ursprüngliche Funktion der Verordnung, nämlich die Belohnung durch positive Anreize, wurde in der polnischen Auslegung und Sichtweise gar nicht berücksichtigt.
Es lässt sich festhalten, dass das Vorenthalten positiver Anreize, um das Justizsystem Polens zu ändern, in der Praxis mitsamt der Effektivität ein eher nüchternes Abbild abzeichnet. Problematisch erscheint auch die unpräzise Formulierung der Konditionen, was zu langwierigen Aushandlungsprozessen und eventuell zu einer Resignation von Änderungen und Zugeständnissen seitens Regierungen führen könnte. Die Kommission besitzt somit ein breites Interpretationsspektrum, ob und in welchem Maße die allgemein formulierten Bedingungen erfüllt wurden, um die Gelder aus den EU-Töpfen fließen zu lassen.[x] Nach der Interpretation der Regierung Morawiecki zur Folge hatte die Verordnung keinen Belohnungseffekt und stellte in diesem Sinne keinen Anreiz dar, dass sich die Einhaltung an rechtsstaatliche Prinzipien lohnen würde. Die Konditionalitätsverordnung wurde anhand der argumentativen Rhetorik in ihrem eigentlichen Sinngehalt diskreditiert. Diese Entwicklungen zeigen, dass die EU nicht in der Lage ist, gegen die Nichteinhaltung des Grundwerts der Rechtsstaatlichkeit vorzugehen. Sie untergräbt ihre Glaubwürdigkeit, weil sie den Staaten zwar Bedingungen und Empfehlungen auferlegen kann, diese aber dennoch mehr oder weniger nach ihren eigenen Regeln spielen.
Fraglich ist auch, ob die ehemalige polnische Regierung diesen Disput mit der Europäischen Union instrumentalisierte, um sich Vorteile in dem politischen Wahlkampf zu verschaffen. Die Anti-EU-Rhetorik gehört schon seit den Anfängen der Regierungsübernahme zum täglichen Kurs der PiS-Partei. Ein wesentlicher Aspekt, der im Fall Polens die Effektivität der Verordnung minderte ist, dass Polens Regierung seit dem Jahr 2015 ihr ganzheitliches Machtmonopol durch die Reformierung des Justizwesens aufgebaut hat und viele eminente Machtgewinne nur deswegen möglich waren. Wie Seidelmeier selbst feststellt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ein Staat sein illiberales Regierungssystem aufgibt, das ihm den Machterhalt sichert, unabhängig von positiven oder negativen Anreizen.[xi] Die Kosten für die Reformierung des Justizsystems schienen für die vergangene polnische Regierung zu überwiegen und relevanter zu sein als die Erhaltung positiver Anreize in Form von EU-Geldern.
Damit die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit bewahren kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie proaktiver gegen die Aushöhlung ihrer Werte vorgeht.
Wahrung europäischer Kredibilität
Die fehlende Verteidigung der Grundwerte der Europäischen Union trotz des Inkrafttretens der Konditionalitätsverordnung, um auf der Grundlage der formulierten Bedingungen zur Verbesserung der rechtsstaatlichen Situation ihrer Mitglieder beizutragen, ist nicht nur das Ergebnis der argumentativen Ablehnung und der Pseudoreformen von Staaten. Es fehlt der EU allgemein eine vertragsrechtliche Grundlage, um Korrekturen zum Schutz der Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit vorzunehmen. In erster Linie dient die Verordnung zum Schutz des EU-Haushalts. Infolgedessen besitzt die EU nur einen begrenzten Rahmen, um gegen Rechtsstaatsabbau vorzugehen. Obwohl die Verordnung aufgrund der niedrigen Hürden leichter anzuwenden ist als das Verfahren nach Artikel 7, hat sich gezeigt, dass die Vorenthaltung positiver Anreize für Polen zum damaligen Zeitpunkt nicht lukrativ genug war, um die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Damit die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit bewahren kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie proaktiver gegen die Aushöhlung ihrer Werte vorgeht. In der Vergangenheit haben die europäischen Institutionen oft zu zögerlich auf Verstöße reagiert, so dass ein früheres Intervenieren einen wichtigen Faktor darstellt. Ein weiterer Schlüssel liegt auch in der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Zivilgesellschaftliche Akteure spielen dezidiert eine wichtige Rolle wenn es um die Verteidigung und Stärkung europäischer Werte geht und sollten somit mehr Partizipation im europäischen Dialog erlangen. Eine wesentliche Rolle wird auch den Mitgliedstaaten zugetragen, die ihre eigenen nationalistischen Interessen zurückstellen und die Notwendigkeit erkennen sollten, in Europa als Projekt für einen dauerhaften Frieden zu investieren.
Ausblick
Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, dass der Sieg der liberalen Tusk-Koalition bei den polnischen Parlamentswahlen 2023 zu einer Annäherung an Brüssel geführt hat. Nach nur wenigen Monaten im Amt hat die Europäische Kommission die Freigabe von bis zu 137 Milliarden Euro an EU-Mitteln an die neue proeuropäische Regierung unter Premierminister Donald Tusk genehmigt. Mit der Annahme der Änderung der umstrittenen Justizreform und anderer Reformen ist die Kommission der Ansicht, dass Polen nun die Bedingungen der EU-Grundrechtecharta erfüllt.[xii] Die polnische Ministerin für regionale Entwicklung betonte in diesem Zusammenhang, dass es bei der EU-Mitgliedschaft nicht nur um enorme finanzielle Ressourcen gehe, sondern auch darum, dass Polen in der EU sei, weil es eine Wertegemeinschaft definiere, die von Demokratie, bürgerlichen Freiheiten, Chancengleichheit und Rechtsstaatlichkeit geprägt sei.[xiii]
Das Beispiel des Richtungswechsels in Polen zeigt, dass die Glaubwürdigkeit Europas je nach Regime und der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, diese Werte zu respektieren und zu schätzen, zu- oder abnehmen kann. Gleichzeitig offenbart sich hier die größte Schwäche der Union. Die Europäische Union darf keine Marionette der Regierungen der Mitgliedstaaten sein, sondern muss als souveräner Regisseur agieren, der bei Verstößen gegen seine Werte zu konsequenten Maßnahmen greifen kann und so den Schutz der in den Verträgen formulierten Grundrechte gewährleistet.
Literaturverzeichnis
[i] Priebus, Sonja (2022): Watering down the `nuclear option`? The Council and the Article 7 dilemma. In: Journal of European Integration, 44 (7): S. 995-1010.
[ii] Die EU verfügt über ein breites Repertoire an spezifischen Konditionalitätsmechanismen, um die Einhaltung der gemeinsamen Werte zu gewährleisten. Dazu gehören die Kopenhagener Kriterien, die bestimmte politische und wirtschaftliche Bedingungen für den Beitritt zur EU enthalten. Auch das Schengener Abkommen formuliert spezifische Bedingungen, die ein Staat erfüllen muss, um Mitglied des Schengen-Raums zu werden, wie etwa den Schutz der Außengrenzen. Außerdem verfügt die EU über ein Überwachungsverfahren, um die Fortschritte eines Landes bei der Korruptionsbekämpfung zu überprüfen. Bulgarien zum Beispiel war Gegenstand eines solchen Monitorings und musste bestimmte Empfehlungen erfüllen, um die im Beitrittsprozess formulierten Verpflichtungen einzuhalten.
[iii] Council of the European Union (2018): OPINION OF THE LEGAL SERVICE. Interinstitutional File: 2018/0136(COD). Online verfügbar unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-13593-2018-INIT/en/pdf. Letzter Zugriff: 30.01.2025
[iv] Amtsblatt der Europäischen Union (2020): VERORDNUNG (EU, Euratom) 2020/2092 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union. Online verfügbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32020R2092&from=EN. Letzter Zugriff: 31.01.2025
[v] Eur-lex: Suspensionsklausel (Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union). Online verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/suspension-clause-article-7-of-the-treaty-on-european-union.html. Letzter Zugriff: 11.02.2025
[vi] Gerichtshof der Europäischen Union (2022): Urteile in den Rechtssachen C-156/21 Ungarn / Parlament und Rat und C-157/21 Polen / Parlament und Rat. Online verfügbar unter https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2022-02/cp220028de.pdf. Letzter Zugriff 15.01.2025
[vii] Sitnicka, Dominika (2022): Izba Dyscyplinarna już nie istnieje. Ale neo-sędziowie powoli przechodzą do starych izb SN. OKO.press. Online verfügbar unter https://oko.press/izba-dyscyplinarna-juz-nie-istnieje-ale-neo-sedziowie-powoli-przechodza-do-starych-izb-sn. Letzter Zugriff: 16.12.2024
[viii] Ministerstwo Sprawiedliwości (2022a): Kłamliwe ataki na Polskę na forum UE. Online verfügbar unter https://www.gov.pl/web/sprawiedliwosc/klamliwe-ataki-na-polske-na-forum-ue. Letzter Zugriff: 15.01.2025
[ix] Ministerstwo Sprawiedliwości (2022b): Blokowanie Polsce pieniędzy z UE to łamanie wszelkich zasad. Online verfügbar unter https://www.gov.pl/web/sprawiedliwosc/blokowanie-polsce-pieniedzy-z-ue-to-lamanie-wszelkich-zasad. Letzter Zugriff: 17.12.2024
[x] Szczerbiak, Aleks (2022): Will the Polish governing camp split over the EU funding issue? Notes from Poland. Online verfügbar unter https://notesfrompoland.com/2022/12/06/will-the-polish-governing-camp-split-over-the-eu-funding-issue/. Letzter Zugriff: 17.12.2024
[xi] Seidelmeier, Ulrich (2016): Political safeguards againts democratic backsliding in the EU: the limits of material sanctions and the scope of social pressure. In: Journal of European Public Policy, 24 (3): S. 1-15.
[xii] Europäische Kommission: Nach polnischen Reformen zu Rechtsstaat/Justiz: Zugang zu 137 Mrd. Euro an EU-Mitteln. Pressemitteilung vom 29. Februar 2024. Online verfügbar unter https://germany.representation.ec.europa.eu/news/nach-polnischen-reformen-zu-rechtsstaatjustiz-zugang-zu-137-mrd-euro-eu-mitteln-2024-02-29_de. Letzter Zugriff: 12.02.2025
[xiii] Euractiv.pl: Pieniądze z KPO już w Polsce. „Największy przelew w historii”. Online verfügbar unter: https://www.euractiv.pl/section/gospodarka/news/pieniadze-z-kpo-juz-w-polsce-najwiekszy-przelew-w-historii/. Letzter Zugriff: 12.02.2025